Aiguilles Rouges de Chamonix - mit Bonatti am Berg
Das fängt ja gut an! 50% Ausfall der Mannschaft. Carol muss nach einem üblen Pendelsturz am Hinterstoisser Quergang Forfait geben. Und Käptn Gloisi hat’s schon in der Kombüse erwischt – vermutlich hat sich so ein heimtückischer Hering quergelegt. Wir brechen trotzdem auf, schliesslich erwarten uns fern der Heimat hohe Ziele, im Reiche des Monarchen. Doch wir halten respektvoll Distanz: Die Aiguille de la Persévérance liegt in den Aiguilles Rouges, auf der Gegenseite. Ici mieux qu’en face – der Name einer Beiz vis à vis des Staatsgefängnisses von Marseille – trifft auf unser Tourenziel voll zu, zumindest wenn es drüben, in der Höhe, garstig wird. An den Plattenfluchten oberhalb Trélechamp laufen wir uns warm. Zum Abschluss eine richtige kleine patagonische Nadel: an windiger Kante kämpfen wir uns hinauf zum heroischen Handschlag auf dem luftigen Gipfelpilz (die typische Eiskalotte ist leider der Klimaerwärmung zum Opfer gefallen). Eigentlich wären wir nun gut gerüstet für grosse Taten. Die kühne Nadel der Aiguille Dru auf der anderen Talseite, mit der berühmten „Directe Americaine“ und dem Bonatti-Pfeiler selig, bringt uns zum träumen. Zu Staub zerfallen, liegt er nun auf dem Mer de Glace verstreut, dieser Meilenstein der Alpingeschichte... ein Jammer. Und noch ein Jammer: der laut Wetterbericht wunderblaue Herbsthimmel hat mittlerweile düstere Flecken bekommen, trüber Regenschleier umhüllen die Dru... Auf schmalem Sims am Abgrund hockend, an rostigen Haken fixiert, vom Regen schon arg durchnässt, mit klammen Fingern den Kocher in Gang zu setzen versuchen... da ziehen wir, halt doch Vertreter der Plaisir-Generation, den warmen Hüttenraum im Chalet Lac Blanc vor – auch wenn eine ganze Herde gallischer Hüttenwanderer die Kommunikation ähnlich erschwert wie ein wüster Westwindsturm im Bonattibiwak. Doch einen – oder besser zwei wesentliche Vorteile haben wir gegenüber Bonatti: unser Biwakplatz steht auf sicherem Grund, und er ist mit kuscheligen Duvets ausgestattet. Erfüllt von den Eindrücken des Tages und vom Geist des Genepi begleiten uns die Gedanken an die Dru oder an die bevorstehende Tour in den Schlaf...
Der Weg an den Einstieg ist weit – und von Weg kann zudem keine Rede sein. Mit einer grausligen Geröllhalde wehrt sich der Berg gegen Eindringlinge. Das braucht ein erstes mal etwas Beharrlichkeit – und führt uns wieder einmal vor Augen, wie vergänglich doch die ewigen Berge sind. Heinz, ganz der Eroberer, wehrt sich auch und markiert mal das Terrain. Zum Glück bleibt die Rache des Berges vorerst aus. Auch der Einstieg erweist sich als knackig. Der enge, feuchte Kamin mit der an einem Klemmblock baumelnden Schlinge sieht nicht gerade verlockend aus – doch die Stelle lässt sich elegant an feinen Leisten umgehen. Auch wenn die Finger noch kalt und die Gelenke (noch?) steif sind, die luftigen, steilen Längen hinauf aufs erste Band begeistern. Dann die berühmte 90m Verschneidung (vielleicht waren’s auch etwas weniger...) Wie ein aufgeschlagenes Buch aus rotem Fels, eine kompromisslose Linie, und zu unserem Glück gänzlich eisfrei. Spreizen, auf die Reibung vertrauen, einen Friend versenken, weiter spreizen, die saugende Tiefe nimmt zu, Ursi und Heinz, am Standplatz sicher verankert, werden kleiner und kleiner. Leider hält sich das königliche Panorama hartnäckig zurück, bald schon umhüllen uns Nebelschwaden. Die Kletterei wird schwieriger. Ich stehe auf einem winzigen Absatz an der Pfeilerkante, die sich grifflos und überhängend im Himmel verliert. Keine Bohrhaken weisen den Weg. Wozu auch, denn damit würde das Unbekannte, die Suche nach der logischen Linie eliminiert. Und diese Linie gibt es, man muss sie nur finden wollen: kleine Schüppchen führen nach links in eine Einbuchtung. Dort öffnet sich ein Riss, gegen oben breiter und überhängend werdend. Tief drinnen versenke ich einen guten Keil. Möglichst schnell und improvisiert, auf meine letzten Kräfte vertrauend, lege ich einen zweiten Keil, belaste ihn mit meinem ganzen Gewicht und winde mich dann, wie eine Schlange, um den abdrängenden Bauch hinauf. Das Gelände wird nun etwas weniger steil, aber unübersichtlich und brüchiger und zehrt an unserer Moral. Wiederum ist Beharrlichkeit gefragt... Als nächstes Hindernis versperrt ein scharfer Gendarm den Weiterweg - ein klassisches Kapitel auf jeder anständigen alpinen Klettertour. Die Flankenquerung ist verlockend, aber die Erfahrung lehrt, dass Kneifen meist mit Schutt und Bruch bestraft wird – also darüber hinweg! Das geht wunderbar, hat aber den Nachteil, dass mit Sicherheit die nächste Scharte dahinter wartet. Überhängende Granitlammellen bieten dankbare Griffe für den Abstieg von unserem Turm, aber mit den Füssen tasten wir im leeren, über endlos in die Tiefe ziehenden, zerfurchten Rinnen. Wie ein schauriger, von ewigem Steinschlag modellierter Trichter. Und prompt bricht der einzige Tritt weg und poltert in den Abgrund. „Heb miiii!“ Der Sturz wird gehalten, ein Felswinkel stoppt den Pendler, nichts gebrochen, kein Blut, also alles in Ordnung. Und der Gipfel nicht mehr weit. Erstaunlich geräumig ist’s auf der schlanken Nadel, wir finden alle Platz zum höckle, inklusive Steinmann.
Schnell ein Stück Käse verdrückt, dann folgt noch das Pflichtprogramm. Sorgfältig steigen wir zur exponierten Abseilstelle auf schmaler Kanzel. Bald schon schwebt der erste am dünnen Faden freihängend in die Tiefe und verschwindet im Nebel...
So oder jedenfalls fast so mag sich die Geschichte zugetragen haben*. Nein wir waren nicht auf der Dru, sondern nur an der Arête sud intégrale der Aiguille de la Perséverance, 1000 m weniger hoch und vielleicht 100 mal einfacher. Aber was für ein schöner Name für einen Gipfel! Und ein tolles Bergerlebnis als Lohn wurde uns auch zu Teil. Denn Perséverance heisst Beharrlichkeit – ich finde, durchaus ein treffendes Ziel für ein Sektionstour.
Text: Christian Preiswerk
* einige Sätze stammen aus dem Originalbericht von Walter Bonatti von der Besteigung „seines“ Pfeilers
Fotos: Ursi Ebner
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